Zuhause - Reflektionen zum Sein

Wenn Zeit und Raum sich kreuzen, dann bin ich zuhause. Zuhause bedeutet Sein.”

 

01   Das Problem ist nicht das Unterwegssein (=Veränderung), sondern das nicht mehr Unterwegssein wollen in einer Welt, die 10x schneller vorwärts geht als früher. Wir sind nicht mehr unterwegs, sondern schon am Ziel.   
            

02   Geborgenheit = Abwesenheit von Sorge = keine zeitliche Dimensionen mehr = im Jetzt

03   Man kann nie im Jetzt sein, wenn man nicht hier ist.

04   Annahme: mit Erfindung der Glühbirne gerät Work-Life-Balance ins Wanken, später dann mit Internet: zeitliche Dimension wird auf globaler Ebene praktisch ausgelöscht; es gibt kein Tag und keine Nacht mehr, kein Ende und kein Anfang; man schwimmt in einem unbestimmten Raum

05   être chez soi [le chez-soi] = das «bei-sich» sein : Zuhause = wenn ich bei mir bin. Mich spüre, mich höre, mich wahrnehme. Wenn ich Stille habe. Wenn ich Gott höre. Wenn ich meine Stimme höre. Wenn ich bin. Also keine Ablenkung, sondern genau im Moment. Es müssen sich also Ort und Zeit schneiden. Somit bin ich zuhause, wenn ich in der Gegenwart bin.

06   Zuhause bedeutet sein. Zuhause sein ist eine Entscheidung. Eine Entscheidung, einen Einschnitt in die Zeit zu machen und im Hier zu sein. Nicht zu werden, sondern zu sein.

07   Es ist dieses Gefühl, dass ich als Kind bei meinen Eltern verspürt habe, Geborgenheit. Und diese Geborgenheit ist einerseits gebunden an einen Ort. Es muss nicht eine Wohnung sein, nicht einen spezifischen Grund haben, warum genau dieser Ort. Es kann die Natur sein, ein fremdes Land, ein Zug, ein Platz. Doch an diesem Ort, wenn die Zeit auf ihn trifft, und ich wirklich an diesem Ort bin, in diesem genauen Moment, wenn ich den Wind in meinen Haaren spüre, die Sonne an meinem Rücken, die Vögel oder das Gerede in meinen Ohren höre, die Abgase, Blumenwiese oder Kälte rieche, ja wenn ich im Jetzt bin; wenn Zeit und Raum sich kreuzen, dann bin ich zuhause. 


08   John Brinckerhoff Jackson “For untold thousands of years we traveled on foot over rough paths and dangerously unpredictable roads, not simply as peddlers or commuters or tourists, but as men and women for whom the path and road stood for some intense experience: freedom, new human relationships, a new awareness of the landscape. The road offered a journey into the unknown that could end up allowing us to discover who we were and where we belonged.”

 

09   Was wir in den letzten Jahrzehnten, Jahrhunderten erlebt haben, ist eine Verschiebung von unserer Wahrnehmung. Früher war Zuhause ein Ort. Unser Zeithorizont war kürzer. Unser Bewegungsfeld auch. Doch heute leben wir in städtischen und industriellen Umgebungen, die sich konstant und zunehmend schneller verändern. Zeit und Bewegung sind zunehmend relevant für uns, Ort und Permanenz zunehmend weniger. Wenn wir also «Zuhause» bloss an einen Ort binden, - wie wir es als Grossteil tausende von Jahre gemacht haben - in einer Welt, die sich schneller dreht und verschiebt als früher, dann sind wir konfrontiert mit der Gefahr, nie mehr nachhause zu finden.

 

10   Manchmal bin ich heimatslos. 

 

11   Mit der Verschiebung der Zeitwahrnehmung in der Gesellschaft, aber auch beim individuellen Erwachsenwerden, bekommt das Zuhause eine neue Bedeutung. Mit dem Erkennen der Zeit, mit dem Erlernen von Präsenz und Futur, versteht man die Zeit neu. Sie ist nicht mehr eindimensional – der exakte Moment, in dem ich lebe, wenn Raum und Zeit eines sind – wie ich sie als Baby oder kleines Kind wahrgenommen habe, sondern sie hat mehrere Dimensionen, die Zeit ist nun relativ zum Raum. Genau mit dieser Wahrnehmungsverschiebung beginnen unsere Sorgen. Wenn ich mir Gedanken zu gestern oder zu morgen machen kann, dann bin ich nicht im Jetzt, dann bin ich nicht hier. Somit geht auch das Geborgenheitsgefühl mit dem Erwachsenwerden zunehmend verloren. Der Zeithorizont wächst vom Spielnachmittag, zu den Ferien, zu dem Schulabschluss, zu der AHV, zur Pension... Es ist oftmals genau dies, unsere Sorgen, die uns nicht nachhause kommen lassen.

 

12   Es gibt viele Menschen, die ein Haus haben, aber kein Zuhause, Menschen die eine Familie haben, aber keine Liebe. So gibt es auch Menschen, die kein Zuhause haben, keine Familie haben, aber nicht heimlos sind.

 

13   «Zuhause» kann viele Dinge sein. Menschen, Orte, Erinnerungen... Mein Zuhause ist kein begrenzter Raum. Mein Zuhause kennt keine Zeit. Ich bin zuhause, wenn sich Zeit und Raum kreuzen. Ich bin zuhause, wenn ich hier bin, in der Gegenwart. Fühlen, hören, riechen, sehen. Für mich bedeutet zuhause zu sein, mich bewusst in den Moment hineinzuversetzen, in alles, was mich umgibt. Nicht gegen die rauen Winde oder die Kälte anzukämpfen, sondern die Schönheit anzunehmen, die sie mit sich bringen. Ich bin zu Hause, wenn ich hier bin, genau jetzt.

 

14    «Am Rechen neben der Glastüre hing der Hut meines Vaters und der Sonnenschirm meiner Mutter, Heimat und Zärtlichkeit strömten mir von allen diesen Dingen entgegen, mein Herz begrüsste sie flehend und dankbar, wie der verlorene Sohn den Anblick und Geruch der alten heimatlichen Stuben.» Hermann Hesse in Demian

 

15   Zuhause ist die Abwesenheit von Zeit und somit die Abwesenheit von Sorgen, von Reue, von Ängsten.

 
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