Die Angst der Existenz: Schwindel der Freiheit
Die Erfahrung der Freiheit ist unweigerlich mit Angst verbunden – Angst, die Kierkegaard als den „Schwindel der Freiheit“ beschreibt. Dieser Schwindel entsteht, weil wir als freie Wesen stets vor Entscheidungen stehen, die uns in die Verantwortung für unser eigenes Leben stellen. Es gibt keine vorgegebene Sicherheit, keine äussere Autorität, die uns von dieser Last entbindet: Die Entscheidung, wie wir uns zu den Gegebenheiten des Lebens verhalten, liegt immer bei uns. Heute leben wir in dieser Zeit, die Kierkegaard erahnt hat, die Zeit der Freiheit.
Vielleicht war Kierkegaard seiner Epoche tatsächlich voraus. Er hat eine Entwicklung gespürt, die sich zu seinen Lebzeiten noch nicht in diesem Ausmass manifestieren konnte. Die industrialisierte und digitalisierte Welt hat diesen Prozess in den letzten Jahrzehnten drastisch vorangetrieben. Insbesondere mit der 68er-Bewegung kam es zu einem radikalen Bruch mit bisherigen gesellschaftlichen Normen und Autoritäten. Die Loslösung vom Staat, von traditionellen Institutionen und moralischen Vorgaben – teilweise auch ausgelöst durch das traumatische Misstrauen nach Kriegen und politischen Enttäuschungen – hat einen erweiterten Existentialismus entstehen lassen, in dem die völlige Autonomie des Individuums im Zentrum steht.
Und nun steht der Mensch, das Individuum vor dem weiten Nichts, bei dem alle Richtungen offen stehen. Komplette Freiheit. Doch diese Freiheit ist nicht frei. Dieser Zustand der extremen Loslösung und Öffnung bringt den Menschen an den Gipfel seiner Existenz – einen Gipfel, von dem aus man in einen Abgrund blickt, der zugleich befreiend und beängstigend ist. Der Schwindel der Freiheit.
Inspiriert von
Kierkegaard, Søren. Der Begriff Angst, 1844.
Sartre, Jean-Paul. L’Être et le Néant, 1943.